Ausgabe 176 • 20.12.2024
HRRF-Jahresrückblick 2024 🎁
In 50 Ausgaben hat der HRRF-Newsletter in diesem Jahr über aktuelle flüchtlingsrechtliche Rechtsprechung berichtet. Nun ist es Zeit für den großen HRRF-Jahresrückblick, in dem die wichtigsten Entscheidungen aus allen Newsletter-Ausgaben des Jahres (sowie die ganz aktuellen Entscheidungen der Woche) zusammengefasst werden, nämlich die der höchsten europäischen und deutschen Gerichte, und zwar in acht thematisch gegliederten Abschnitten. Der HRRF-Newsletter macht eine kurze Pause und kehrt am 3. Januar 2025 zurück. Fröhliche Weihnachten!
Materielles Flüchtlingsrecht
Besserer Schutz für Frauen, Gaza und Diskretionsgebot
- Januar 2024. Der EuGH präzisiert die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes wegen häuslicher Gewalt, die Verfolgung im Sinne der EU-Qualifikationsrichtlinie darstellen kann (HRRF-Newsletter Nr. 128).
- Juni 2024. Der EuGH stellt fest, dass Frauen, die als gemeinsames Merkmal ihre tatsächliche Identifizierung mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern teilen, zu der es im Zuge ihres Aufenthalts in einem EU-Staat gekommen ist, als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden können (HRRF-Newsletter Nr. 149), und entscheidet, dass die Gewährung von Flüchtlingsschutz für UNRWA-Palästinaflüchtlinge aus dem Gazastreifen möglich ist, wenn dort keine menschenwürdigen Lebensbedingungen mehr gewährleistet werden können (ebenfalls HRRF-Newsletter Nr. 149).
- Oktober 2024. Der EuGH hat keine Zweifel daran, dass die diskriminierenden Maßnahmen des afghanischen Taliban-Regimes gegen Frauen sowohl aufgrund ihrer Intensität und ihrer kumulativen Wirkung als auch aufgrund der Folgen, die sie für betroffene Frauen haben, Verfolgung im Sinne der EU-Qualifikationsrichtlinie darstellen (HRRF-Newsletter Nr. 166).
- November 2024. Der EGMR stellt klar, dass niemand verpflichtet ist, seine sexuelle Orientierung zu verbergen, um Verfolgung zu vermeiden (HRRF-Newsletter Nr. 174).
Zugang zum Asylverfahren
Menschenrechtswidrige Pushbacks und Zurückweisungen
- Januar 2024. Der EGMR rügt den tödlichen Schusswaffengebrauch der griechischen Küstenwache gegen ein Flüchtlingsboot in der Ägäis im Jahr 2014 (HRRF-Newsletter Nr. 128).
- April 2024. Der EGMR rügt menschenrechtswidrige Zurückweisungen durch polnische Grenzbehörden in den Jahren 2016 und 2017 (HRRF-Newsletter Nr. 139).
- Juni 2024. Der EGMR verhandelt über sogenannte Driftbacks manövrierunfähiger Schlauchboote durch griechische Behörden (HRRF-Newsletter Nr. 148), die Große Kammer des EGMR übernimmt ein Verfahren zu Pushbacks von 32 afghanischen Schutzsuchenden an der polnischen Ostgrenze im Jahr 2021 (HRRF-Newsletter Nr. 151).
- Juli 2024. Die Große Kammer des EGMR übernimmt ein Verfahren zu Pushbacks von 26 irakischen Staatsangehörigen an der lettischen Grenze (HRRF-Newsletter Nr. 152).
- September 2024. Der EGMR rügt die Zurückschiebung einer afghanischen Familie nach Serbien im Jahr 2019 (HRRF-Newsletter Nr. 163).
- Oktober 2024. Der EGMR rügt sowohl einen Pushback von syrischen Flüchtlinge durch die zyprische Küstenwache im Jahr 2020 (HRRF-Newsletter Nr. 166) als auch die Zurückweisung eines Schutzsuchenden an der deutsch-österreichischen Grenze im Jahr 2018 (HRRF-Newsletter Nr. 167).
Asylverfahrensrecht
Sichere Herkunftsstaaten, neue Umstände und anhängige Vorabentscheidungsverfahren
- Februar 2024. Der EuGH hält fest, dass jedes EuGH-Urteil einen neuen Umstand im Sinne der EU-Asylverfahrensrichtlinie darstellen und die Durchführung eines Folgeverfahrens rechtfertigen kann (HRRF-Newsletter Nr. 131).
- September 2024. Das BVerfG urteilt, dass es gegen das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verstößt, wenn ein Gericht im Eilverfahren entscheidungserhebliche unionsrechtliche Fragen oder ein beim EuGH anhängiges Vorabentscheidungsverfahren ignoriert (HRRF-Newsletter Nr. 164).
- Oktober 2024. Der EuGH entscheidet, dass Herkunftsstaaten nur dann sichere Herkunftsstaaten sein können, wenn ihr gesamtes Hoheitsgebiet sicher ist, und dass bei der Weigerung eines sicheren Drittstaats, einen Schutzsuchenden wieder aufzunehmen, ein Asylverfahren in der EU durchgeführt werden muss (beides HRRF-Newsletter Nr. 166), außerdem erreicht den EuGH ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen zu sicheren Herkunftsstaaten (HRRF-Newsletter Nr. 169).
- November 2024. Den EuGH erreichen weitere Vorabentscheidungsersuchen zu sicheren Herkunftsstaaten (HRRF-Newsletter Nr. 171 und Nr. 175), er entscheidet, einige der bei ihm anhängigen Vorabentscheidungsersuchen zu sicheren Herkunftsstaaten im beschleunigten Verfahren zu verhandeln (HRRF-Newsletter Nr. 175).
- Dezember 2024. Der EuGH erklärt, dass ein Zweitantrag nur dann als unzulässiger Folgeantrag abgelehnt werden darf, wenn im Zeitpunkt der Stellung des zweiten Asylantrags das Asylverfahren im ersten Mitgliedstaat bereits bestandskräftig abgeschlossen war (Urteil vom 19. Dezember 2024, Rs. C‑123/23 und C‑202/23).
Dublin-Verfahren usw.
Dublin-Rundschreiben, Bindungswirkung, Anerkannten-Fälle und Tatsachenrevisionen
- Februar 2024. Das OVG Münster legt dem EuGH Fragen zu den italienischen Dublin-Rundschreiben aus dem Dezember 2022 vor (HRRF-Newsletter Nr. 136).
- April 2024. Der EuGH meint, dass es gegen Dublin-Ermessensentscheidungen keine Rechtsbehelfe geben muss (HRRF-Newsletter Nr. 142).
- Mai 2024. Das VG Sigmaringen initiiert ein weiteres Vorabentscheidungsverfahren zu den italienischen Dublin-Rundschreiben (HRRF-Newsletter Nr. 165).
- Juni 2024. Der EuGH definiert in zwei Urteilen, in welchem Umfang die Schutzgewährung in einem EU-Mitgliedstaat die Behörden anderer Mitgliedstaaten bindet (HRRF-Newsletter Nr. 150).
- September 2024. Das BVerwG nimmt in Anerkannten-Fällen eine Rückkehr im Regelfall im Familienverband an (HRRF-Newsletter Nr. 162).
- November 2024. Das BVerwG entscheidet erstmals über Tatsachenrevisionen und erwartet nicht, dass nicht vulnerable Schutzberechtigte bei ihrer Rückkehr nach Italien in eine Lage extremer materieller Not geraten würden (HRRF-Newsletter Nr. 172).
- Dezember 2024. Das BVerwG entscheidet über eine weitere Tatsachenrevision und meint, dass in Italien keine unmenschliche oder erniedrigende Aufnahmesituation für eine als international schutzberechtigt anerkannte alleinerziehende Mutter mit einem Grundschulkind und einem Kind unter drei Jahren besteht (Urteil vom 19. Dezember 2024, siehe die Pressemitteilung des Gerichts), der EuGH beantwortet die deutschen Vorlagefragen zu den italienischen Dublin-Rundschreiben und sagt, dass systemische Schwachstellen in einem Mitgliedstaat nicht allein deswegen festgestellt werden können, weil der zuständige Mitgliedstaat die Überstellungen von Asylbewerbern einseitig aussetzt (Urteil vom 19. Dezember 2024, siehe die Pressemitteilung des Gerichtshofs).
Aufenthaltsrecht
Familiennachzug, Visumverfahren, Einreiseverweigerung, humanitärer Aufenthalt und Missbrauchsverbot
- Januar 2024. Der EuGH stärkt den Familiennachzug zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, indem er für die Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt abstellt, in dem der Antrag auf Familienzusammenführung gestellt wird (HRRF-Newsletter Nr. 130).
- April 2024. Das BVerfG rügt erneut die Verpflichtung zur Nachholung des Visumverfahrens in Fällen, in denen der verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie einschlägig ist (HRRF-Newsletter Nr. 144).
- Juni 2024. Das BVerwG hält das Bestehen eines unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts neben einem anderweitigem Aufenthaltsrecht für möglich (HRRF-Newsletter Nr. 149), allerdings auch eine Einreiseverweigerung unabhängig von einer individuellen Gefahrenprognose aus Gründen des öffentlichen Gesundheitsschutzes für rechtmäßig (HRRF-Newsletter Nr. 163).
- Juli 2024. Der EuGH postuliert ein allgemeines unionsrechtliches Missbrauchsverbot (HRRF-Newsletter Nr. 156).
- August 2024. Das BVerwG bejaht einen unmittelbar aus der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie folgenden Anspruch auf Kindernachzug zu anerkannten Flüchtlingen auch bei Fristversäumnis (HRRF-Newsletter Nr. 171).
- September 2024. Der EuGH entscheidet, dass vor einer Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung eine individualisierte Prüfung der Situation und eine Anhörung der Familienangehörigen vorzunehmen ist (HRRF-Newsletter Nr. 162), und stellt klar, dass weder die EU-Qualifikationsrichtlinie (ebenfalls HRRF-Newsletter Nr. 162) noch die EU-Rückführungsrichtlinie (HRRF-Newsletter Nr. 165) die Erteilung humanitärer Aufenthaltstitel verbieten, das BVerwG nimmt eine Sperrwirkung von § 36a AufenthG für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten an (HRRF-Newsletter Nr. 164).
- Oktober 2024. Das BVerwG lehnt eine verkürzte Trennungszeit beim Ehegattennachzug gemäß § 36a AufenthG ab (HRRF-Newsletter Nr. 168).
- Dezember 2024. Der EuGH sagt, dass ein Mitgliedstaat, der vorübergehenden Schutz über die EU-Anforderungen hinaus auf bestimmte Personengruppen ausgedehnt hat, ihnen diesen entziehen kann, ohne das Ende des nach EU-Recht gewährten vorübergehenden Schutzes abzuwarten (Urteil vom 19. Dezember 2024, Rs. C-244/24 u. C-290/24, siehe die Pressemitteilung des Gerichtshofs).
Aufnahmebedingungen
Obdachlosigkeit, unmenschliche und erniedrigende Behandlung und Leistungseinschränkungen
- Januar 2024. Der EGMR rügt einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK wegen der Obdachlosigkeit eines minderjährigen Schutzsuchenden in Griechenland in den Jahren 2018 und 2019 (HRRF-Newsletter Nr. 129).
- April 2024. Der EGMR rügt einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK wegen der Zustände in Aufnahmezentren auf den griechischen Inseln in den Jahren 2019 und 2020 (HRRF-Newsletter Nr. 141).
- Mai 2024. Der EGMR rügt einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK wegen der Behandlung eines unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden in Griechenland im Jahr 2019 (HRRF-Newsletter Nr. 146).
- Juli 2024. Das BSG hat Zweifel, ob die in § 1a AsylbLG vorgesehenen Leistungseinschränkungen bei Zuständigkeit eines anderen Dublin-Staats mit der EU-Aufnahmerichtlinie vereinbar sind, und initiiert ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH (HRRF-Newsletter Nr. 156).
- Oktober 2024. Der EGMR rügt einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK wegen der Zustände in Aufnahmezentren auf den griechischen Inseln in den Jahren 2019 und 2020 und wegen der Aufnahmebedingungen in der ungarischen Transitzone Röszke in den Jahren 2017 bis 2019 (HRRF-Newsletter Nr. 166).
Aufenthaltsbeendigung
Ausweisungen, Geheimverfahren, Auslieferungen und Abschiebungshindernisse
- April 2024. Der EGMR hält die Ausweisungspraxis dänischer Behörden für menschenrechtswidrig, weil sie das Kindeswohl nicht berücksichtigt, Ausweisungen nicht angedroht wurden und unverhältnismäßig lange Wiedereinreiseverbote verhängt wurden (HRRF-Newsletter Nr. 140), das BVerfG sieht in der Ausweisung eines faktischen Inländers nach strafrechtlichen Verurteilungen einen Grundrechtsverstoß, unter anderem weil der Status des Beschwerdeführers im Rahmen der Abwägung der Bleibe- und Ausweisungsinteressen lediglich bagatellisierend erwähnt wurde (HRRF-Newsletter Nr. 146), der EuGH entscheidet, dass ungarische Geheimverfahren zum Entzug von Aufenthaltstiteln gegen EU-Recht verstoßen (HRRF-Newsletter Nr. 142).
- Mai 2024. Das BVerfG sagt, dass in Auslieferungsverfahren einem Vortrag zu möglichen Auslieferungshindernissen nachgegangen werden muss und ansonsten das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt ist (HRRF-Newsletter Nr. 148).
- Juni 2024. Eine einstweilige Anordnung des BVerfG in einem Auslieferungsverfahren wird ignoriert (HRRF-Newsletter Nr. 152).
- September 2024. Der EGMR rügt die Ausweisung zweier Ausländer aus der Schweiz nach ihrer Verurteilung wegen eines Drogendelikts als menschenrechtswidrig und der EGMR sieht in ungarischen Geheimverfahren zum Entzug von Aufenthaltstiteln eine Menschenrechtsverletzung (beides HRRF-Newsletter Nr. 163).
- Oktober 2024. Der EuGH entscheidet, dass zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse vor einer Abschiebung erneut geprüft werden müssen, wenn staatliche Behörden einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zwischenzeitlich abgelehnt haben (HRRF-Newsletter Nr. 167).
Abschiebungshaftrecht
Rechtswidrige Haft und Haftbedingungen
- Januar 2024. Der EGMR verurteilt Ungarn wegen der Inhaftierung von zwei minderjährigen Schutzsuchenden im Jahr 2016 (HRRF-Newsletter Nr. 133).
- März 2024. Der BGH hält Gruppenanhörungen bei der Haftanordnung (HRRF-Newsletter Nr. 145) und zu kurze Besuchs- und zu lange Einschlusszeiten (HRRF-Newsletter Nr. 148) für rechtswidrig.
- April 2024. Der EGMR rügt die willkürliche Inhaftierung eines Schutzsuchenden während seines Asylverfahrens in den Niederlanden im Jahr 2016 (HRRF-Newsletter Nr. 142), der BGH rügt die überlange Dauer eines Haftbeschwerdeverfahrens (HRRF-Newsletter Nr. 151).
- Juni 2024. Der BGH rügt die um zwölf Tage verspätete Meldung des Aufgriffs eines unerlaubt eingereisten Ausländers (HRRF-Newsletter Nr. 157).
- Juli 2024. Der EGMR rügt die Inhaftierung von Schutzsuchenden aus Gründen der nationalen Sicherheit in Zypern (HRRF-Newsletter Nr. 152).
- September 2024. Der BGH hält die Benachrichtigung einer falschen Person über eine Haftanordnung für rechtswidrig (HRRF-Newsletter Nr. 164).
- Oktober 2024. Der EGMR verurteilt Griechenland und erneut Ungarn wegen der menschenrechtswidrigen Inhaftierung Schutzsuchender in den Jahren 2019 und 2020 (Griechenland) und 2017 bis 2019 (Ungarn) (beides HRRF-Newsletter Nr. 166) sowie Malta wegen der menschenrechtswidrigen Inhaftierung minderjähriger Schutzsuchender in den Jahren 2022 und 2023 (HRRF-Newsletter Nr. 168), der BGH meint, dass bei Zurückweisungshaft kein anwaltlicher Vertreter gemäß § 62d AufenthG zu bestellen ist (HRRF-Newsletter Nr. 171) und dass nach unverschuldeter Nichtausreise kein Ausreisegewahrsam angeordnet werden darf (HRRF-Newsletter Nr. 172).